Der erste Stolperstein rollte mir bereits früh vor die Füße. Nach der Grundschule war ich davon ausgegangen, eine Empfehlung für die Realschule zu bekommen. In meinem Zeugnis standen nur Zweien, außer in Mathe und Sport, da hatte ich eine Drei. Meine Güte war ich enttäuscht, als ich nur die Empfehlung für die Hauptschule bekam. Die Lehrerin begründet es mit meiner „schlechten“ Note in Mathe und ich verstand die Welt nicht mehr.
Erst sehr viele Jahre später erfuhr ich den tatsächlichen Grund. Meine Eltern und meine Lehrer waren der Ansicht, dass ich aufgrund meiner Mukoviszidose niemals in der Lage gewesen wäre, einen Realschulabschluss zu absolvieren. Ich fühlte mich damals um eine gute Schulbildung betrogen. Niemand hat mich gefragt, was ich eigentlich wollte.
Aber es waren auch andere Zeiten. Ich bin Jahrgang 1967 und Mukoviszidose war zu der Zeit kaum bekannt, auch bei den Ärzten nicht, und man ging davon aus, dass ich damit nicht alt werden würde.
Auch vom zweiten Stolperstein musste ich mich bremsen lassen. Eigentlich wäre ich nach meinem Hauptschulabschluss gerne Floristin oder Goldschmiedin geworden. Auf keinen Fall wollte ich in die Verwaltung, denn mein Schulpraktikum bei der Kreisverwaltung hatte mich völlig abgeschreckt. Die Berufsberatung empfahl mir, man ahnt es bereits, eine Ausbildung in der Behörde bzw. im Büro zu machen. Mit meiner Krankheit wären meine Berufswünsche total unrealistisch. Wieder war ich sehr enttäuscht, meine Wünsche wurden erneut ignoriert und offenbar konnte man mit meiner Mukoviszidose alles begründen.
Also machte ich letztendlich eine vierjährige Ausbildung in der Behörde zur Beamtin. Nur Beamtin konnte ich dann auch nicht werden. Um verbeamtet zu werden, muss man das Okay des personalärztlichen Dienstes erhalten. Dort befand man, dass ich mit Mukoviszidose und dem zwischenzeitlich hinzugekommenen Diabetes keinesfalls Beamtin werden kann. Na ja, immerhin wurde ich als Verwaltungsangestellte übernommen und fristete ein unglaublich langweiliges, berufliches Behördendasein. Ich war extrem frustriert. Da ich von Kindesbeinen an Tanzunterricht nahm, konnte ich zumindest in meiner Freizeit das tun, was mir viel Freude machte. Ganz nebenbei tanzte ich auch gleich meinen Frust weg.
Mit 20 Jahren wechselte ich vom Sportverein in ein Ballettstudio, welches schnell zu meiner zweiten Heimat wurde. Zunächst schickte mich meine Ballettlehrerin zu einem zweiwöchigen Tanzsommer nach Bozen. Sie war der Ansicht, dass ich mit meinem Tanztalent dort viel lernen würde. Zum allerersten Mal in meinem Leben entschied ich alleine, was ich tun wollte. Natürlich versuchten meine Eltern und andere Menschen, mir die Teilnahme am Ballettsommer auszureden, aber ich fuhr nach Bozen. Eine ausgesprochen erfüllende Zeit, die einen Stein ins Rollen brachte, von dem ich zum dem Zeitpunkt noch nichts ahnte.
Danach schickte mich meine Ballettlehrerin zu einem Vortanzen an eine Fachschule, die Tanzpädagog*innen ausbildete. Ich ging ohne große Hoffnung dorthin und bestand zu meiner Überraschung das Vortanzen. Der Stein rollte weiter und ich beschloss, diese einmalige Chance zu nutzen, dort eine dreijährige Vollzeitausbildung zur Tanzpädagogin zu machen. Kurzerhand ließ ich mich von der Behörde für drei Jahre unentgeltlich beurlauben und behielt damit einen Fuß in der Behördentür. So konnte ich problemlos wieder in der Behörde arbeiten, falls das mit der Tanzausbildung schief ging. Natürlich hielten mich wieder Einige aus meinem direkten Umfeld für verrückt, mit meinen Krankheiten eine Tanzausbildung machen zu wollen. Sie sagten mir, dass ich das körperlich niemals durchhalten werde. Ich würde schon sehen, was ich davon hätte. Ermutigung sieht definitiv anders aus.
Ich schloss diese Ausbildung äußerst erfolgreich ab und begann, wieder halbtags in der Behörde zu arbeiten, in der anderen Hälfte unterrichtete ich Tanz. Es fühlte sich alles so richtig und frei an. Leider zwang mich mein Gesundheitszustand dazu, das Unterrichten wieder aufzugeben. Die Mukoviszidose hatte mir ein Stoppschild auf den Kopf geknallt. Ich betrachte das nach wie vor nicht als Scheitern, auch wenn einige Mitmenschen das so bezeichneten. Immerhin hatte ich rund zehn Jahre unterrichtet und damit meinen Traum gelebt. Die Tanzausbildung habe ich keinen einzigen Tag bereut. Sie hat mich frei werden lassen und ich lernte dort auch, wie ich mein Leben selbstbestimmt gestalten kann.
Ich kehrte ganztags in die Behörde zurück und die berufliche Langeweile ging erneut los. Irgendwann wurde ein Aufstiegsstudium für den gehobenen Dienst ausgeschrieben und ich bewarb mich für einen Studienplatz. Sofort meldeten sich wieder kritische Stimmen, die mir unterstellten, dass ich wohl nie zufrieden sei und warum ich jetzt auch noch studieren wolle. Ich ließ mich nicht beirren und bestand das tagelang andauernde Assessment Center, um einen der wenigen Studienplätze zu erhalten. Ausgerechnet im engsten Familienkreis war man nun der Ansicht, dass ich den Studienplatz nur aufgrund meiner Schwerbehinderung erhalten hätte und nicht wegen meiner Leistung. Wieder einmal musste meine Mukoviszidose als Begründung herhalten, nur diesmal umgekehrt. Ich schloss das Studium erfolgreich ab und wurde sogar noch nachträglich verbeamtet.
Heute arbeite ich als Referentin für Kinder- und Jugendkulturprojekte in der Kulturbehörde und bin zwischenzeitlich zufrieden mit meinem Behördenleben. Wenn ich heute über meinen beruflichen Werdegang nachdenke, so muss ich leider feststellen, dass er von vielen ableistischen Erfahrungen geprägt wurde.
Kurz zur Erklärung: Ableismus ist der Begriff für die Diskriminierung, Stigmatisierung und Vorverurteilung von behinderten und chronisch kranken Menschen. Es gehört zur Behindertenfeindlichkeit und bezieht sich auch auf die Strukturen und Denkmuster dahinter. Nicht behinderte Menschen werden beispielsweise über Behinderte gestellt. Behinderte werden als unvollständig und kaputt angesehen. Ableismus hat viele Gesichter und kann sich unterschiedlich äußern. Ganz direkt oder auch subtiler. Eine aufwertende und überbetonte Äußerung kann auch ableistisch sein. Z.B. „Das ist aber toll, dass Du trotz Deiner Behinderung arbeiten kannst.“ Das suggeriert, ein Leben mit Behinderung/chronischer Erkrankung wird nur mit großen Anstrengungen lebenswert.
Wenn jemand sagt, „ich sehe Dich nicht als behindert“, ist das z.B. das Ignorieren und Absprechen der Lebensqualität von behinderten/chronisch kranken Menschen. Solche ableistischen Erfahrungen habe ich natürlich nicht nur in Schule und Beruf gemacht, sondern begegnen mir bis heute in allen Lebenslagen. Nur das ich es heute schneller erkennen und dann auch entsprechend reagieren kann.
Mein Berufsweg war ohne Frage holperig und ich musste einige Stolpersteine aus dem Weg räumen, aber er war auch geprägt von meiner Zielstrebigkeit, dem Ausbrechen aus den Erwartungen anderer, von meinem Mut und von meinem Dickkopf. Immer wenn jemand der Ansicht war, dass ich etwas nicht schaffen könnte, hat mich das erst Recht ermuntert, diejenigen vom Gegenteil zu überzeugen. Geht nicht? Na, das wollen wir ja erst mal sehen…
Simona
Simona Köhler, Jahrgang 1967, eine lebenserfahrene Mukoviszidose-Betroffene, lebt mit ihrem Mann in Pinneberg. Sie wurde u.a. zur Tanzpädagogin ausgebildet und unterrichtete viele Jahre Tanz. Nach dem Verwaltungsstudium arbeitet sie heute in der Hamburger Kulturbehörde als Referentin für Kinder- und Jugendkulturprojekte. Seit ihrem 18. Lebensjahr engagiert sie sich ehrenamtlich für Menschen mit Mukoviszidose.
Wie das Tanzen ist auch das Schreiben für sie eine Möglichkeit, unklaren Gefühlen zu begegnen oder den Kopf wieder frei zu bekommen. Mit ihren Texten möchte sie ihre Erfahrungen im Umgang mit Mukoviszidose weitergeben. Zunehmend setzt sie sich in ihren Texten kritisch mit „Ableismus“ auseinander, um für dieses Thema zu sensibilisieren.
Auf Instagram findet Ihr Simona unter @simonatanzt.
Modulatoren in der Schwangerschaft – weiternehmen oder absetzen?
Erwerbsminderungsrente: Zeit gewinnen für die Gesundheit
Die Stolpersteine auf meinem Berufsweg mit Mukoviszidose
Rundum versorgt? – Verschiedene Blickwinkel auf Qualität in CF-Ambulanzen