Als erstes treffe ich mich mit Anne Hilf-Bau und Hanne Buder-Leitgen. Wir wollen über den Wandel in der Selbsthilfe sprechen, so wie wir ihn in unserer Regionalgruppe Mittelrhein in den letzten Jahren erlebt haben.
Hanne, 82 Jahre alt, ist als erste im Zoom-Meeting. Dann folgen etwas abhetzt Anne und ich, wir sind gerade von der Arbeit zurück. Schön, dass wir uns sehen - der letzte Stammtisch der Gruppe ist schon wieder sechs Monate her.
“Wir haben damals versucht, uns einmal im Monat zu treffen”, erzählt Hanne. Sie hat die Gruppe im Jahr 2007 gegründet, als ihr betroffener Enkelsohn sieben Jahre alt war. In der Region Koblenz gab es keine aktive Selbsthilfegruppe, also kümmerte Hanne sich selbst darum. “Mein Fokus lag damals darauf, Spenden zu sammeln und Mukoviszidose bekannter zu machen. Die Gruppe war sehr lange sehr klein, es kamen noch eine Mutter und auch zwei Betroffene zu den Treffen.”
In alten Unterlagen – kopierten Zeitungsartikeln und gesammelten Fotos – sehen wir Hanne mit Freunden auf Märkten stehen. Der Stand ist bestückt mit großen Postern, Flyern und Luftballons. Das hat sich bis heute kaum geändert - auch wir haben bei diversen Veranstaltungen schon einen Stand gehabt, beim Kinderfest, beim Weihnachtsmarkt, im Kindergarten, in Schulen. Damals wie heute eine gute Idee, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen und auf uns aufmerksam zu machen. Und Spenden zu sammeln.
Anne und ich überlegen. Als wir 2017 als junge Mütter die Gruppe von Hanne übernahmen, fing sie gerade an zu wachsen. Uns beiden war es wichtig, die Eltern miteinander zu vernetzen. Die Stammtische wurden immer besser besucht, die WhatsApp-Gruppe entstand, in der wir uns bis heute schnell austauschen und Rat holen können. Mittlerweile haben wir eine Internetseite, einen Facebook- und einen Instagram-Account. Und unser Ambulanzteam macht bei Eltern mit neu diagnostizierten Kindern immer auf uns aufmerksam und gibt unseren Flyer weiter, das ist wohl die wichtigste Stelle, um neue Familien auf die Selbsthilfegruppe aufmerksam zu machen.
Am Morgen des heutigen Tages postet eine Mutter in unsere WhatsApp-Gruppe: “Ich möchte gerne meine Freude mit Euch teilen – das Ergebnis des Schweißtests meines Sohnes ist nach Einnahme von Kaftrio auf 10 gesunken – bei der Diagnose lag der Wert bei 85! Ich musste ein paar Freudentränen vergießen”. Und wir freuen uns alle mit, wir kennen den Jungen und wissen, dass er auch schon eine ziemlich schlechte Zeit hinter sich hat. Das macht uns allen Mut. Auch Einschulungen, Sprünge ins Wasser, die erste Klassenfahrt, Theaterauftritte und sportliche Erfolge feiern wir gemeinsam. Aber auch bei akuten Verschlechterungen und neuen Herausforderungen stehen wir einander bei.
“Hanne, wie war bei Euch die Stimmung in der Gruppe? Was waren Eure Themen, was hat Euch beschäftigt?”
“Ich glaube, es gab viel mehr Ungewissheit, Angst und Not als heute. Als mein Enkelsohn 17 Jahre alt war, wussten wir nicht, ob er 21 Jahre alt wird, so schlecht ging es ihm. Heute läuft er Marathon und fühlt sich sehr gut.” Ich schlucke, mein Sohn ist auch 17 Jahre alt. Er macht eine Ausbildung zum Koch und sucht gerade nach einem neuen Fußballverein. Er feiert gerne mit seinen Freunden und hat ein relativ unbeschwertes Leben. Mukoviszidose spielt in seinem Alltag kaum eine Rolle, so gut geht es ihm mit den neuen Medikamenten.
Anne bringt das Gespräch auf den Film “Lebenslinien” mit Stephan Kruip, der kürzlich im Fernsehen zu sehen war. Wir lassen nochmal einige Szenen Revue passieren und sind uns einig, dass wir und unsere (Enkel-) Kinder, so unterschiedlich auch ihre Verläufe mit CF sind, weit entfernt sind von der gesundheitlichen Situation und dem damit einhergehenden Therapieaufwand, den Stephan und seine Familie eindrücklich beschreiben. Wir sind alle froh, dass es unseren (Enkel-) Kindern so viel besser geht.
Ein paar Tage später telefoniere ich mit Kerstin Hörath, Gruppensprecherin der Regionalgruppe Mittelfranken. Kerstin treffe ich seit Jahren bei den Selbsthilfetagungen, sie ist seit der Geburt ihrer Zwillinge in der Selbsthilfe aktiv, die beiden sind 30 Jahre alt. Über den Wandel der Selbsthilfe haben wir uns schon oft unterhalten. “Wenn wir früher irgendwo einen Stand hatten, wollten da alle mitmachen”, erzählt sie. “Wir mussten Schichten planen, damit alle mal rankamen. Heute muss ich Freunde fragen, ob sie mir beim Aufbauen helfen. Und auf die Stammtische haben wir uns alle gefreut. Wir haben uns immer auch mit den Kindern getroffen und einmal im Jahr eine gemeinsame Freizeit veranstaltet. Mit der ganzen Familie.” Ich vergleiche. Mit den Kindern haben wir uns noch nie getroffen, trotzdem kennen die Kinder sich – vom Erzählen oder auch von Onlinetreffen, die wir zwischendurch als Stammtischersatz während der Coronazeit hatten. Mittlerweile treffen wir Eltern uns wieder lieber persönlich zum Abendessen oder zu unserem Auszeitwochenende, um uns auszutauschen.
Ich denke nochmal über den Infostand nach – im Grunde ist unser Infostand heutzutage unser Account in den sozialen Netzwerken. Wir können heute so schnell und so breit informieren, das ist schon enorm. Klar, das persönliche Gespräch am Infostand fehlt, trotzdem bekommt man auch auf einen Post in den sozialen Medien Resonanz, nicht so direkt wie beim persönlichen Treffen, und manchmal von Menschen, mit denen man gar nicht rechnet.
Ich arbeite an der Rezeption unserer Praxis für Physiotherapie. Dort spricht mich eine Frau an, die gerade ihre Mutter zur Behandlung bringt. “Frau Dorner, ich habe mitbekommen, dass Sie sich für Mukoviszidose engagieren, ist das richtig?” Ich bestätige und frage nach, ob sie jemanden kennt, der auch betroffen ist. “Ja, meine Familie – drei meiner Geschwister sind in den 1950er und den 1960er Jahren an Mukoviszidose gestorben. Keins der Kinder ist älter als zwei Jahre alt geworden.” Da bin ich erst mal sprachlos – ich äußere meine Betroffenheit, aber der nächste Patient steht schon in der Schlange. Wir verabschieden uns, aber das kurze Gespräch hat Nachhall und geht mir nicht aus dem Kopf. Ich rufe ein paar Tage später bei ihr an und frage, ob ihre Mutter sich wohl mal mit mir unterhalten würde.
“Das glaube ich nicht – das hat sie gut verpackt und es würde sie wahrscheinlich zu sehr aufwühlen. Aber ich frage sie mal bei Gelegenheit.” Schade, denke ich im ersten Moment, aber dann frage ich nach, ob sie selbst sich noch an etwas erinnern kann. “Ja, an den dritten Bruder erinnere ich mich noch, ich war zu der Zeit neun Jahre alt. Er lag sein ganzes kurzes Leben nur im Krankenhaus, er wurde fünf Monate alt. Das Bild dieses kranken Jungen habe ich noch gut vor Augen. Ich selbst lag in der Zeit auch im Krankenhaus mit einer Gehirnhautentzündung. Ich dachte, ich muss nun auch sterben, so wie meine Geschwister. Irgendwann hat meine Mutter, die mich nie groß beachtet hat, verstanden, dass sie ja auch noch ein gesundes Kind hat und sich endlich auch mal um mich gekümmert.” Was für eine dramatische Familiengeschichte. Ich weiß, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss, aber nach ihrer Schilderung fühlt es sich fast so an, als ich meinerseits erzähle, wie gut es meinem Sohn und unserer Familie geht. Sie freut sich sehr mit mir, dass sich die Zeiten so geändert haben. Wir verabschieden uns und ich habe auch ohne das direkte Gespräch mit der Mutter das Gefühl, wieder viel erfahren und gelernt zu haben.
Ich habe mich verzettelt. Eigentlich sollte ich einen Artikel über die Änderungen in der Selbsthilfe schreiben, aber in allen Gesprächen kommen wir immer auf unsere Kinder, Enkelkinder, Geschwister, Freunde und Bekannte zurück und wie sich deren Gesundheit und Leben in den letzten Jahrzehnten verändert und verbessert hat. Und auch immer darauf, wie es uns Eltern, Großeltern, Geschwistern und Freunden geht.
Die Sorge um unsere Liebsten treibt uns dazu an, uns zu engagieren und für Hilfe und Verbesserungen zu kämpfen. Dieser Antrieb hat sich in all den Jahren nicht geändert, die Wege und Mittel schon.
Damals wie heute engagieren sich Menschen, die ein Anliegen haben und nicht darauf warten wollen, dass sich irgendjemand Anderes darum kümmert. Früher wie auch heute noch finden Menschen zusammen, die in der Selbsthilfe spüren, dass sie und ihr Einsatz einen Unterschied machen können.
Damals wie heute sind wir Anlaufstelle für neue Eltern, die sich erst mal mit ihrer neuen Situation zurechtfinden müssen. Wir hören einander zu und geben einander Halt. Wir arbeiten mit unseren Ambulanzen zusammen, finden gemeinsam Lösungen für Probleme und unterstützen mit unseren Ideen und unseren Spendengeldern dort, wo es keinen anderen Kümmerer oder Kostenträger gibt. Wir organisieren Fortbildungen und Patiententage. Wir sammeln Spenden und sorgen dafür, dass jeder in unserem Umfeld und darüber hinaus weiß, was Mukoviszidose ist.
Die Gespräche mit der älteren Generation zeigen uns immer wieder deutlich, wo wir herkommen und was wir alle gemeinsam erreichen können, wenn wir uns weiter für diejenigen einsetzen, die uns am Herzen liegen. Deshalb lasst uns weiter engagiert bleiben in der Gewissheit, dass wir immer etwas tun können, um das Leben für Menschen mit Mukoviszidose, ihre Familien und unser eigenes positiv zu beeinflussen.
Tanja Dorner
Mutter und Selbsthilfeaktive
Austausch der Generationen – Selbsthilfeaktive unterhalten sich
Durch den Verein habe ich immer Ansprechpartner gefunden, wenn es akute Sorgen und Probleme gab
Wenn es das Neugeborenen-Screening nicht gegeben hätte, wüssten wir vielleicht noch nichts von CF
Heute kann mein Sohn selbst Tipps geben und durch seine positive Ausstrahlung ein Vorbild sein