Simona hat Mukoviszidose und ist inzwischen 56 Jahre alt. Sie kann sich noch gut daran erinnern, dass sie als Kind immer unter Bauchschmerzen litt. Doch lange Zeit wusste niemand, was die Ursache für die Bauchschmerzen und Durchfälle war. Und als die Diagnose Mukoviszidose feststand, erzählte man Simona selbst zunächst nichts davon. Dieser Blogbeitrag ist Teil unserer Aktion „Erzähl Deine Diagnose-Geschichte“ im Mukoviszidose Monat Mai.
Auf dem Babyfoto bin ich knapp ein Jahr alt und die Welt schien da noch in Ordnung zu sein. Aus späteren Erzählungen weiß ich aber, dass ich schon zu dem Zeitpunkt unter heftigen Durchfällen litt. Der Kinderarzt fand dafür keine Erklärung. Ich erinnere mich, dass ich ständig heftige Bauchkrämpfe hatte, was letztlich fast immer mit Durchfall auf dem Klo endete. Häufig war dieses Bauchweh so schlimm, das ich vor lauter Schmerzen kaum noch Luft bekam. In der Küche meiner Oma gab es einen kleinen Hocker, den ich manchmal dafür benutzte, mich bäuchlings darüber zu legen. Irgendwann fand ich heraus, dass mir der leichte Druck der Sitzfläche an meinem Bauch guttat und dadurch meine Schmerzen ein wenig gelindert wurden. In meinem Bauch gluckerte es regelmäßig, er war andauernd aufgebläht wie ein großer Kürbis und manchmal war die Bauchdecke so hart wie Beton. Immer wieder geriet ich in brenzlige Situationen, in denen ich es ganz knapp schaffte, gerade noch rechtzeitig aufs Klo zu kommen. Mich störte es als Kind besonders, dass mich meine Magenkrämpfe immer wieder aus dem Spiel rissen. Die Erwachsenen wiederum wunderten sich zunehmend, warum ich trotz großem Appetit immer dürrer wurde. Mein Hunger stand einfach im krassen Widerspruch zu meinem spiddeligen Körper.
Irgendwann entschied mein Kinderarzt, das im Kinderkrankenhaus abklären zu lassen – da war ich fünf Jahre alt. Dort wurde ich gründlich untersucht und in ein Quarantänezimmer gesteckt, da zunächst eine ansteckende Krankheit vermutet wurde. Als feststand, dass ich nichts Ansteckendes hatte, wurde ich etwas später mit der Diagnose Zöliakie entlassen und meine Mutter musste für mich glutenfrei kochen und backen. Das hat natürlich alles nichts gebracht und meine Durchfälle gingen munter weiter und so landete ich erneut im Krankenhaus. Am allerschlimmsten war für mich, dass es dort streng reglementierte Besuchszeiten gab und ich nicht verstand, warum meine Eltern mich so selten besuchen kamen. Die Abschiede waren tränenreich und ich hatte jedes Mal panische Angst, dass sie mich nie wieder abholen und ich den Rest meines Lebens im Krankhaus verbringen würde. Zunehmend hatte ich das Gefühl, irgendetwas falsch zu machen und entwickelte ein schlechtes Gewissen, weil meine Eltern sich viel mehr um mich kümmern mussten als um meine jüngere Schwester.
Beim zweiten Krankenhausaufenthalt wurde dann zweimal ein Schweißtest gemacht. Das Ergebnis erbrachte die eindeutige Diagnose Mukoviszidose. Ich erfuhr davon allerdings nichts, ich wunderte mich bloß darüber, warum ich auf einmal so große weiße Tabletten (Pankreon Forte) schlucken und die lästige Prozedur der Klopftherapie über mich ergehen lassen musste. Außerdem durfte ich plötzlich keine fettreichen Dinge mehr essen, somit waren dann Schokolade, Salami, Nüsse, Sahnejoghurt usw. passé für mich. Mit anderen Worten, alles was ich lecker fand, durfte ich nicht mehr essen. Das fühlte sich für mich wie eine echte Strafe an.
Insgesamt war die Zeit der Krankenhausaufenthalte für mich einfach nur traumatisch. Um damit irgendwie klar zu kommen, spielte ich eine Zeit lang fast täglich das „Krankenhausspiel“. Alle meine Puppen und Stofftiere waren meine Patienten und ich malträtierte sie mit Nadeln und Verbandszeug. Sie litten an den schlimmsten Krankheiten und überlebten meistens nicht. Ich war wirklich keine zimperliche Ärztin und nutzte alles, was mein Kinderarztkoffer hergab. Zeitweilig wirkte mein Kinderzimmer wie ein Gruselkabinett. Meine Wut, Angst und Trauer ließ ich an meinen Puppen und Stofftieren aus. All meine Wehr- und Hilflosigkeit verkehrte ich beim Spiel ins Gegenteil. Ich bestimmte, was mit welcher Puppe geschehen sollte, ich übernahm die Führung und versuchte so, Oberwasser zu gewinnen. Ich holte mir damit ein kleines Stück meiner Selbstbestimmtheit zurück. Auch wenn das Spiel für Außenstehende befremdlich gewirkt haben musste, es war absolut notwendig für mich. Die Erlebnisse im Krankenhaus hätten sich ansonsten in mir festgefressen und mich erdrückt.
Erst viele Jahre später erfuhr ich von meinen Eltern, dass die Ärzte ihnen ohne Feingefühl erklärten, dass Mukoviszidose eine Erbkrankheit sei und ich damit höchstens acht Jahre alt werden könnte. Eine Beratung oder eine psychologische Unterstützung gab es damals nicht, sie wurden damit weitestgehend einfach alleine gelassen. Das war vermutlich auch der Grund dafür, dass sie mir die Krankheit nicht erklärten bzw. nicht erklären konnten. Aus meiner Sicht ist es aber notwendig, mit einem Kind schnell darüber zu reden. Nur dann kann es die Erkrankung nach und nach verstehen, um damit leben zu lernen.
Die Bauchkrämpfe und Durchfälle blieben trotz Tabletten jahrelang meine treuen Begleiter und ich blieb ein dünner Hungerhaken. Erst als Kreon auf den Markt kam, änderten sich diese Probleme grundlegend. Allerdings kam im Laufe der Zeit der Husten dazu, vor allem extremer Reizhusten. Dieser kostete mich viele Nächte, in denen ich nicht durchschlafen konnte. Wenn ich dann blass und unausgeschlafen in der Schule ankam, und womöglich mehrmals mit Durchfall aufs Klo musste, war der Tag, kaum das er begonnen hatte, für mich auch schon wieder gelaufen. Die Hustenanfälle brachten mich auch immer wieder in unangenehme Situationen, z.B. in der Schule oder sonst wo in der Öffentlichkeit, denn ich erschreckte die Menschheit um mich herum mit filmreifen Hustenattacken. Die Husterei und mein dürrer Körper machten mich leider sehr häufig zum Gespött der anderen Kinder. Sie hänselten mich ständig für mein Aussehen – Kinder konnten echt gnadenlos sein.
Ausgerechnet mitten in der Pubertät, so mit rund 13 Jahren, erfuhr ich eher zufällig, welche Krankheit ich tatsächlich habe. Ich entdeckte eine Mukoviszidose-Zeitschrift, die meine Eltern zwischenzeitlich vom Mukoviszidose e.V. erhielten, las darin über eine Krankheit mit dem unaussprechlichen Namen Mukoviszidose und verstand schlagartig, dass ich diese Krankheit habe. Mein gesamtes Leben geriet aus den Fugen und ich fühlte mich um meine Zukunft betrogen. Ich dachte, dass ich niemals einen Beruf ergreifen, niemals heiraten und eigene Kinder haben würde und vor allem nie wieder ohne Furcht und Sorglosigkeit leben könnte. Ich fühlte mich meiner Krankheit vollständig ausgeliefert. Außerdem sollte mein Leben ja auch erst richtig beginnen und normalerweise sterben Kinder auch nicht vor ihren Eltern. Es fühlte sich alles total falsch an. Es war eine extrem harte Zeit für mich. Zum damaligen Zeitpunkt verstand ich nicht, warum bis dahin keiner mit mir über diese Krankheit gesprochen hatte. Heute akzeptiere ich, dass meine Eltern nicht den Weg des offenen Umgangs gewählt haben, sie wurden damit ja selber alleine gelassen.
Im Laufe der Jahre lernte ich damit umzugehen, dass das Damoklesschwert „frühzeitiger Tod“ ständig über mir schwebte, ich akzeptierte meine Erkrankung und fand Wege für mich, dennoch ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben zu führen. Außerdem pfiff ich irgendwann auf die sogenannten Lebenserwartungs-Statistiken, sie stimmten ja zumindest für mich nicht. Heute bin ich 56 Jahre alt und kann aus vollster Überzeugung sagen, dass ich es weitestgehend geschafft habe, mein Leben nach meinen Wünschen zu leben. Mukoviszidose hält mich jedenfalls schon lange nicht mehr davon ab. Damals war es für einige Menschen nicht immer nachvollziehbar, warum ich Dinge gemacht habe die ich gemacht habe. Zum Beispiel als ich mich mit 26 Jahren entschloss, die dreijährige Ausbildung zur Tanzpädagogin zu absolvieren. Sie hatten sicher Angst um mich und dass ich mich damit übernehmen könnte. Ich hatte und habe aber auch immer liebe Menschen um mich herum, die mich in all meinem Tun unterstützt haben und mich weiterhin unterstützen. Ihr Vertrauen in mich, dass ich meinen Weg schon gut gehen werde, hat mir dabei immer wieder geholfen. Zudem war ich schon früh der Meinung, dass Grenzen dazu da sind, sie auszutesten, denn ansonsten weiß ich ja gar nicht, wo sie sind. Mit anderen Worten, meine Freiheiten habe ich mir einfach erkämpft, denn es liegt ja in meiner Verantwortung, was ich mit meinem Leben anstelle. Außerdem denke ich, das ich mit einem “Steh-Aufmännchen-Gen“ ausgestattet bin. Aus jedem tiefen Loch habe ich mich immer wieder ausgebuddelt, meinen zukünftigen Weg ausgelotet und, wenn notwendig, einen Neustart hingelegt. Das Leben ist viel zu kurz, um es nicht ausgiebig zu genießen. Mukoviszidose hin oder her.
Simona Köhler (CF, 56 Jahre)
Mehr über Simonas Leidenschaft, das Tanzen
Unterstützt unsere Arbeit für Eltern neudiagnostizierter Kinder mit einer Spende. Jetzt spenden.
Mit Spenderlunge zur Goldmedaille
Wann ist es denn soweit? Kinderwunsch und Mukoviszidose
"Ich hatte immer die Angst im Hinterkopf, wann die Krankheit wieder zuschlagen würde"